„Kleine Dinge können sehr bedeutungsvoll sein“, sagte der alte Herr Dachs. „Alles ist von Bedeutung. Du bist derjenige, der dies erkennen und diese Bedeutung annehmen kann, und dadurch erweckst du das Kleine zum Leben und machst es groß.“
Sir Reginald Attenborough beugte sich über die steinerne Tafel. Seine Lupe machte nicht viel Sinn, denn in dieser Grabkammer war es sehr dunkel. Mit einem Pinselchen versuchte er, die Gravuren im Stein von Staub zu befreien, der seit vielen Jahrhunderten hier festsaß.
„Licht, Licht!“, brummte er.
„Hier“, keuchte Sergey. Die feuchte Luft machte ihm zu schaffen, und er wischte sich mit einem staubigen Tuch den Schweiß von der Stirn. Sergey war ein russischer Archäologe und hatte sogar einen Doktortitel. Doch er war nicht ernsthaft genug, als dass ihm die archäologische Gesellschaft eine wichtige Arbeit allein übergeben hätte. Also war er Sir Reginalds Assistent und hielt die Petroleumlampe und beleuchtete unaufmerksam den Stein des Forschers. Immer wieder verschwand der Kegel des Lichts von dessen Arbeitsfläche.
„Wie kann ich arbeiten, wenn du das Licht nicht gerade halten kannst“, schimpfte der Lord.
„Entschuldigung“, bat Sergey. Doch es dauerte keine drei Minuten, bis der Lichtkegel wieder weiterwanderte.
„Nein, nein“, sagte der Lord. „Hier ist auch nichts.“
Sir Reginald war unruhig, fast aufgeregt. Vor einem halben Jahr war die Grabkammer des jungen Pharaos entdeckt worden. Nichts durfte angefasst werden, alles wurde katalogisiert, vermessen, abgezeichnet. Unzählige Wissenschaftler, Museen und Institute drängten die archäologische Gesellschaft von London und den Chefarchäologen Howard Carter, nun endlich die Schätze freizugeben. Drüben, in der Kammer des Sarkophags waren die Wissenschaftler bereits weiter. Die goldene Maske der Königsmumie verweilte bereits im archäologischen Museum von Kairo und wurde in allen Zeitungen der Welt abgedruckt.
Doch das alles kümmerte Sir Reginald wenig. Er war auf einer anderen Spur, viel größer, viel wertvoller, viel weitreichender. Für ihn war es der Schatz, der alle anderen Goldschätze weit übertraf. Es war die kleine Spieltruhe des Pharaos. Schwarz, aus Ebenholz. Ein länglicher Kasten mit Schublade und auf Löwenfüße gestellt. Oben, die Spielfläche: dreißig Felder aus Elfenbeinplättchen. Zehn Felder nebeneinander in drei Reihen. Auf dem Spielfeld standen vier Spielfiguren und vier Türmchen aus Türkis. Fünf der Felder enthielten Symbole, eins in der Mitte und vier am Rand, wie zufällig angeordnet.
„Warum?“, fragte Sir Reginald. „Warum legt man einem Pharao ein Spiel mit ins Grab?“
„Zum Zeitvertreib?“ Sergey verstand es nicht besser.
„Nein, nein, mein Lieber. Es ist weit mehr, weit größer. Es ist das Spiel der Götter. Es ist das Spiel des Lebens.“
„Ach, es ist doch nur ein Spiel.“ Sergey konnte den Eifer des Lords nicht verstehen.
„Oh, du begreifst es nicht besser, mein russischer Gelehrter“, sagte der Lord. „Dieses Spiel ist das zentrale Relikt des gesamten Pharaonenschatzes. Es wurde von den allerhöchsten Priestern des Pharaonenreiches in das Grab gelegt. Es führt den Toten in das Leben der Götter. Nur wenn er es spielt und gewinnt, kann er zu den Göttern aufsteigen.“
„Mein Lord“, antwortete Sergey. „Deine Interpretationen in allen Ehren, aber ich glaube, dass du das ein wenig zu hoch bewertest. Dies ist auch die Meinung der wissenschaftlichen Akademie in London.“
„Papperlapapp! Alles Ignoranten“, schimpfte Sir Reginald.
Und dann tat Sir Reginald das, was offiziell auf das Strengste verboten war. Er streckte seine Hand aus und berührte eine Spielfigur.
„Twt nh Jmn hq Jwnw smj?“, kam es plötzlich aus der Sarkophagkammer.
Sir Reginald und Sergey erschreckten sich sehr, denn plötzlich stand die Mumie des Pharaos in der Türöffnung.
„Nb hpw r twt“, antwortete Sergey und lächelte dabei hilflos.
„Was sagte er?“, fragte Sir Reginald.
„Er fragt, was du mit seinem Spiel machst“, antwortete Sergey.
„Du verstehst ihn?“
„Aber ja. Meine Dissertation heißt: der ägyptische Dialekt. Ich spreche fließend pharaonisch.“ Schließlich hatte Sergey den Doktortitel.
Sir Reginald sprang auf und verbeugte sich.
„Äh, meine Hochachtung, mein König. Ich bin erfreut, Euch kennenzulernen. Na los, sag ihm das, sag ihm das!“
Sergey übersetzte.
„Htp ntr w hrw sgrh nfr“, sagte die Mumie.
„Er sagt: Bitte fass mein Spiel nicht an“, übersetzte Sergey.
„Ihr könnt das Spiel spielen?“, Sir Reginald durchfuhr eine große Ahnung, dass er nun endlich das finden könnte, wonach er so lange gesucht hatte: die Spielregel.
Die Mumie war über und über mit Tüchern und Bändern umwickelt. Das alte Harz, das die Bänder zusammenhalten sollte, knirschte und bröselte, wenn sie sich bewegte. Sie kam näher, nahm das Spiel und stellte es vor Sir Reginald auf den Boden.
„Nein“, sagte sie. „Kannst du es spielen?“
Das erwartungsvolle Lächeln in Sir Reginalds Gesicht verschwand. Er bemerkte, dass sich das erwartungsvolle Lächeln im Gesicht der Mumie ebenfalls verflüchtigte. Die Enttäuschung war groß auf beiden Seiten.
„Ich muss das Spiel spielen“, sagte die Mumie.
Sergey übersetze alles und fieberte danach, den Dialekt des Pharaos zu hören. Sein Herz pochte. Er freute sich, weinte, lachte, sprach dem Pharao nach, antwortete ihm, übersetzte seine Worte und die des Lords. Es war für ihn der Moment des höchsten Glücks, die Originalstimme seines Lebenswerks zu hören, das ihn jahrelange Forschungen gekostet hatte.
„Ich auch“, sagte Sir Reginald. Wie magisch angezogen setzten sie sich einander gegenüber auf den Boden und starrten auf das Spiel. Sergey hielt die Petroleumlampe, doch dieses Mal wie im Fieber, ganz aufgeregt, um nichts zu verpassen.
„Ich habe das Spiel nicht zu Ende gespielt“, sagte die Mumie. „Spiel mit mir! Ich kann nur befreit werden, wenn ich das Spiel zu Ende spiele.“
Der Lord bemerkte, dass die Mumie unruhig war. Bei jeder Bewegung bröselte sie etwas. Sie durfte nicht viel Zeit verlieren.
„Wie lautet die Regel?“, fragte er in freudiger Erregung. „Könnt Ihr Euch erinnern?“
„Nein“, antwortete der Pharao. „Die Hohenpriester haben mein Gehirn in irgendeinen Behälter gelegt und meinen Kopf mit Harz ausgegossen. Wie kann man sich dabei an etwas erinnern?“
„Wie gehen wir vor? Wie fangen wir an?“ Der Lord legte die vier Spielfiguren und die vier Türme auf das Spielfeld und suchte nach einem Startfeld, doch dies erwies sich als schwierig.
„Das sind meine Figuren“, bestimmte die Mumie und nahm die vier schlanken Figuren zu sich.
„Warum?“, fragte der Lord. „Warum sind das deine Figuren?“
„Ganz einfach“, antwortete die Mumie. „Es ist das Spiel des Lebens. Meines Lebens, also sind das meine Figuren.“
„Ah, sehr interessant“, sagte der Lord, „Aber warum vier?“
„Wegen der vier Jahreszeiten“, gab Sergey schnell Auskunft.
„Nein“, sagte die Mumie. „Die vier Figuren haben etwas mit mir zu tun, mit meinem Leben.“
„Vier Altersstadien?“, fragte der Lord.
„Die vier Stadien“, freute sich der Pharao. „Ja! Vier Zeitabschnitte im Leben. Zuerst bin ich das Kind, und dann der Jugendliche. Als Drittes bin ich der Erwachsene und schließlich der Alte. Vier Zeitabschnitte im Leben. Und jede Figur ist gleich. Alles ist eins. Ich bin alles zu gleicher Zeit.“
„Ja“, ergänzte der Lord. „Du bist gleichzeitig derjenige, der du einmal warst, das Kind und der Heranwachsende, und du bist der Erwachsene. Und gleichzeitig bist du der Alte. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Also sehen die Figuren gleich aus.“
„Hier fange ich an“, sagte der Pharao. „Mit der Geburt.“ Er setzte eine Figur in die Ecke der ersten Zehnerreihe. Er wurde immer unruhiger. „Na los, fangen wir an!“
„Also gut, ich spiele mit den vier Türmen“, sagte Sir Reginald. „Aber was bedeuten sie?“
„Ich weiß es nicht“, rief die Mumie verzweifelt aus. „Oh, mein Kopf ist so staubig. Wenn ich mich doch nur erinnern könnte!“
Er nahm die vier kleinen Holzstäbchen, die vor ihm lagen, und schleuderte sie auf das Spielfeld.
Sergey beruhigte ihn auf Altägyptisch und wollte die Stäbchen wieder aufsammeln.
„Halt!“, rief Sir Reginald. „Schau, die Stäbchen: Alle vier sind mit der flachen Seite nach oben gelandet.“
Die Stäbchen hatten jeweils eine flache und eine runde Seite.
„Mein Schicksal“, sagte die Mumie und stand auf. „Ich habe mein Schicksal gewürfelt.“
„Die Türme“, sagte der Lord. „Sie bedeuten das Schicksal.“
„Ja, sie werden meinem Leben entgegengestellt“, antwortete der Pharao. „Sie stehen in meinem Weg, wie ein großes Ereignis, eine Krankheit oder ein Unfall. Die Hohenpriester haben mir damit die Zukunft vorhergesagt.“
„Du musst versuchen, sie mit allen deinen vier Lebensfiguren zu überwinden“, sagte der Lord.
„Wenn ich das erreicht habe, dann habe ich mein Schicksal überwunden, und ich kann zu den Göttern gehen.“
„Das ist das Spiel des Lebens!“, rief Sir Reginald Attenborough entzückt aus. „Ich wusste es.“
„Aber du bist kein Priester“, sagte die Mumie. „Also darfst du eigentlich nicht gegen mich spielen. Nur das Schicksal kann es. Nur die Götter können es.“
„Ich würfle in deinem Namen, ist das okay?“
„Na gut, dann bist du mein Orakel.“
„Du hast eine vier gewürfelt. Ist das gut oder schlecht?“
„Ich bin der Pharao“, gab die Mumie zur Antwort. „Das Schicksal meiner Geburt liegt vier Felder weiter. Das ist sogar sehr gut, denn ich kann sogleich drei Figuren nacheinander aufstellen. “
„Okay“, sagte der Lord, „die nächsten Schicksalsschritte werde ich werfen. Was bedeuten sie?“
„Das Spiel ist mein Orakel. Es ist die Herkunft, die Erziehung in der Kindheit, das Umfeld, in dem ich aufgewachsen bin.“
Sir Reginald warf die Hölzchen und legte die Türme der Reihe danach auf. Die Mumie setzte ihre Figuren möglichst hintereinander. Sie durften von den Türmen nicht getrennt werden.
„Trennung bedeutet Schicksal.“
„Ja“, rief der Pharao, und er erinnerte sich wieder. „Dies sind die Stationen in meinem Leben: Die Hochzeit mit der jungen Pharaonin, der Sturz vom Streitwagen. Die schwierige Heilung meines Nackens.“
Draußen vor der Grabkammer hörte man Stimmen.
„Oh, nein, Howard Carter kommt zurück“, rief Sir Reginald. „Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.“
„Machen Sie das Tor auf, Sir“, hörte man von draußen.
„Das geht jetzt nicht, Mr. Carter“, antwortete Sir Reginald. „Sie müssen sich bitte noch gedulden.“
Doch Carter war ungeduldig. Niemand durfte sich ungefragt in die Grabkammer einschließen.
„Wenn Sie nicht aufmachen, Sir, muss ich die Absperrung gewaltsam öffnen lassen.“
„Geben Sie mir bitte noch zehn Minuten, ja?“
In der Zwischenzeit hatte der Pharao sein Spiel fortgesetzt. Die ersten vier Steine übersprangen den Schicksalsturm, und er konnte die weiteren Türme angreifen.
„Wenn der letzte Turm übersprungen ist, wird er vorn neu gesetzt“, bestimmte er.
Sir Reginald würfelte und setzte seine Türme. Der Pharao würfelte ebenso und zog seine Figuren nach.
„Was bedeutet das Symbol auf dem mittleren Feld?“, fragte Sir Reginald.
„Ein Frosch. Die Metamorphose“, sagte Sergey.
„Damit muss ich neu beginnen und fange von vorn an“, sagte die Mumie.
„Die vier Symbole: Drei Herzen bedeuten Glück, die Farbe Rot Feuer.“
„Das nächste Symbol ist das Zeichen für Wasser.“
„Drei Kraniche. Stehen sie für Luft?“
„Zwei sitzende Männer. Vielleicht symbolisieren sie die Erde.“
„Die vier Elemente“, sagte Sir Reginald. „Wer diese vier Felder der Weisheit betritt, für den ist der Weg frei, um zu den Göttern zu gelangen.“ Doch die Türme von Sir Reginald blockierten den Pharao. Nur noch durch einen Sprung mit drei Figuren gleichzeitig konnte dieser die Türme überwinden – geschafft.
„Also ich kapiere diese Regel überhaupt nicht“, sagte Sergey.
Draußen pochte es an der Tür.
Der Pharao bröselte stark und atmete schwer. Mit großer Anstrengung machte er seine Züge und belegte nach und nach die vier Felder der Weisheit.
Howard Carter hatte sich Verstärkung geholt und schlug auf die hölzerne Absperrung mit Gewalt ein. Nur noch wenige Sekunden, dann würde er in der Grabkammer stehen.
„Nur noch eine Vier“, sagte der Pharao mit letzter Kraft und hob die Stäbe empor zu den Göttern. „Ist das Schicksal auf meiner Seite?“
Er warf: vier. Ja! Nun setzte er die letzte Figur aus dem Spiel, und ein erleichtertes Seufzen erfüllte den Raum. In diesem Moment stand Carter in der Kammer. Seine Augen hatten sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt. Doch was er sah, ließ ihn erschaudern:
Die Mumie erhob sich und zerfiel vor den Augen aller zu Staub.
„Was in aller Welt machen Sie da?“, fragte Howard den Lord.
Sir Reginald stand auf, verbeugte sich vor dem Staub des Pharaos und schaute Carter fest in die Augen.
„Bei allem Respekt, Sir“, antwortete er. „Ich habe mit dem Pharao das Spiel des Lebens gespielt. Und nun entschuldigen Sie mich bitte.“ Er setzte seinen Hut auf und ging zum Ausgang.
Dann blickte er sich zu Carter um: „Er hat im Übrigen gewonnen“, sagte er.
Sir Reginald Attenborough verließ das Tal der Könige und reiste zurück nach London.
Obwohl in allen Zeitungsberichten der Welt das rätselhafte Spiel des Pharaos abgebildet wurde, das die Mumie zu Staub zerfallen ließ, so ließ Sir Reginald niemals eine Silbe über die geheimnisvolle Spielregel verlauten. Sie ist bis zum heutigen Tage noch nicht enträtselt.