„Jeder Mensch hat seine Wahrheit“, sagte der alte Herr Dachs. „Jeder betrachtet seinen eigenen Standpunkt als richtig und hält ihn für wahr. Doch wer hat wirklich recht? Kann ich sagen: Ich habe recht, und du hast unrecht? Nein, denn jeder Standpunkt ist gleichberechtigt.“
„Hört, ihr Leut‘, und lasst euch sagen …!“
Der Stadtschreiber Maximilian von Finkenbein stand auf dem Marktplatz des kleinen Städtchens Tiefenstein und rollte ein großes Schreiben aus, an dessen unterem Ende ein Siegel des hiesigen Barons baumelte. Der Name dieses Barons war Bruno von Tiefenstein, genau wie die Stadt. Und seine Tochter hieß Marita von Tiefenstein, und sie hatte einen Hund, Beso, mit einer schwarzen Pfote. Aber das tut jetzt nicht viel zur Sache. Und die andere Pfote war hellbraun, falls das noch jemand wissen will.
„Hört, ihr Leut‘, und lasst euch sagen …!“, wiederholte Maximilian, der Stadtschreiber.
Der Stadtschreiber eines so kleinen Städtchens wie Tiefenstein hatte nicht sehr viele Aufgaben, und daher war sich Maximilian von Finkenbein seiner jetzigen Aufgabe voll bewusst. Die ganze Nacht hatte er an seinem Schriftstück gearbeitet und sich aus diesem Anlass das edle, amtliche Gewand angezogen, mit dem amtlichen, städtischen Siegelring am Finger, und mit dem städtischen Amtshut. Dieser Hut leuchtete in der Sonne wunderschön rot, und die aufgesetzten Glasperlen glitzerten wie Morgentau.
Die Menschen waren neugierig und hielten an oder kamen herbei und wollten wissen, was heute wohl für Neuigkeiten berichtet würden.
Direkt oben im dritten Stockwerk des Hauses neben der Bäckerei wohnte Frau Pudelwohl. Sie war überall ziemlich rund und auch ziemlich neugierig. Emma Pudelwohl wollte auch gerne wissen, was der Stadtschreiber Finkenbein zu berichten hatte und lehnte sich weit aus dem Fenster. Dabei schob sie den Blumentopf vom Fenstersims, und dieser flog vom dritten Stockwerk krachend auf das Pflaster, direkt neben die Füße von Gärtner Apfelkern.
„Schon wieder ein Blumentopf, Emma Pudelwohl!“, schimpfte Gärtner Apfelkern, nachdem er sich von seinem Schreck erholt hatte. „Eines Tages landet er jemandem auf dem Kopf, und dann ist er kaputt, der Topf, äh, der Kopf, und derjenige muss sich einen neuen kaufen! Ach, was sag ich…!“
Er wackelte mit seinem Zeigefinger, aber Emma Pudelwohl war nicht einsichtig, denn sie liebte Blumen. Und weil sie einen anderen Blumentopf in der Küche hatte, viel größer und schöner als der erste, welcher im Übrigen ein richtig schwerer Steintopf war, mit blauer Glasur und mit einem Rosenstock darin, der drei rosa Blüten hatte, stellte sie diesen wieder auf den Fenstersims.
„Hiermit lässt unser guter Patron der Stadt, Baron Bruno von Tiefenstein, folgende Botschaft an sein untertäniges Volk verkünden“, begann der Stadtschreiber Maximilian von Finkenbein mit einer etwas heiseren, aber lauten Stimme.
Dann hörte er auf zu lesen und blickte entnervt zu Gärtner Arthur Apfelkern hinüber. Dieser hatte einen alten Hand-Leiterwagen mit quietschenden Rädern und mit einer kaputten Achse. Die Achse war mit einer Schnur befestigt, die mit ihrem langen Ende hinter dem Leiterwagen herschleifte. Und weil der Marktplatz mit Kopfsteinpflaster ausgelegt war, und der Leiterwagen kräftig holperte und quietschte, fühlte sich Herr Finkenbein in seiner Rede gestört.
„Tschuldigung…“, lächelte Gärtner Apfelkern und hatte bereits sein Ziel erreicht, nämlich ein Bäumchen aus Italien, das er letzte Woche vom Baron überreicht bekam mit der Aufgabe, es auf den Marktplatz zu pflanzen.
Das Bäumchen musste jetzt täglich gegossen werden, und dafür hatte Arthur Apfelkern sein Leiterwägelchen dabei mit einigen Eimern Wasser und einer riesengroßen Forke. Eine Forke hat vier lange spitze Zacken, und man gebraucht sie normalerweise, um Mist auf eine Schubkarre aufzuladen. Doch Gärtner Arthur wollte damit das Vögelchen vertreiben, das sich sogleich, nachdem das Bäumchen auf den Marktplatz gepflanzt worden war, ein kleines Nestchen in die Spitzen der Zweige gebaut hatte.
„Grummel, grummel“, dachte Arthur Apfelkern. „Ein Vogel in meinem Baum… und dann auch noch ein Nest bauen… und alles kaputt machen! Das kann ich nicht leiden.“
Die Menschen in der Stadt hatten dem Vögelchen auch schon einen Namen gegeben. Es hieß Piepsi. Dieser Name ist nicht sehr bedeutungsvoll und spielt jetzt auch keine große Rolle.
Doch wer kann darüber entscheiden, was bedeutungsvoll ist und was nicht? Ist es nicht für Piepsi von Bedeutung, dass ihm von den Menschen der Stadt ein Name gegeben wurde? Ist nicht für die Menschen das Vögelchen bedeutungsvoll, weil sie ihm ihre Aufmerksamkeit schenken? Alles, was Aufmerksamkeit bekommt, ist bedeutungsvoll. Nichts ist bedeutungslos.
Nur die Forke des Gärtners Arthur Apfelkern, die ist doch nun wirklich egal. Diese Forke steckte nämlich in einem der Wassereimer, und die vier Spitzen ragten gefährlich nach oben. Wenn da bloß keiner mit der Nase daran hängen blieb. Ganz schön leichtsinnig! Aber wollen wir unsere Aufmerksamkeit anderen Dingen zuwenden, nicht dieser albernen Forke.
Da war nur noch Marita von Tiefenstein. Für sie war das Thema noch nicht ganz beendet.
„Sie werden es nicht wagen“, zischte Marita mit spitzer Stimme aus dem Publikum zu Gärtner Apfelkern hinüber, denn sie ahnte, was er mit seiner Forke und dem Vögelchen vorhatte. „Wehe, Sie vertreiben Piepsi, dann werde ich Ihnen mit Ihrer eigenen Forke in den Hintern pieken.“
Zur Bekräftigung ihrer Worte machte ihr Hund Beso „Wau!“
„Ähemm!“, meldete sich jetzt wieder der Stadtschreiber Maximilian von Finkenbein zu Wort, dem das alles zu viel wurde. Er rückte seinen glitzernden Hut zurecht und las weiter aus seiner Rolle:
“Um großes Unheil von unserem Volke abzuwenden, das durch das Erscheinen eines schrecklichen, bösen Drachen in der Höhle der Tiefenschlucht bedroht wird, wird hiermit angeordnet, dem Drachen die schönste, blonde Jungfrau der Stadt zu opfern. Sie soll noch heute vor seiner Höhle an einen Pfahl angebunden werden.“
Die Menschen auf dem Marktplatz riefen: „Ohhh!“
Maximilian rieb sich die Nase und las weiter: „Unser guter Baron, Bruno von Tiefenstein, hält dieses Opfer für dringend notwendig und rechnet damit, den Drachen auf diese Weise besänftigen zu können, sodass dieser die Gegend wieder für immer verlässt und die Bürger dieser Stadt fürderhin von seinem Zorn verschont bleiben.“
Die Menschen auf dem Marktplatz riefen wieder „Ohhh“ und „Ahhh“ und eilten wie Ameisen in einem Ameisenhaufen hin und her, in den man mit einem Stöckchen hineinstochert.
Aber Marita von Tiefenstein legte ihre Stirn in eine senkrechte Falte. Sie war ärgerlich.
„Und was passiert, wenn der Drache nicht zufrieden ist? Hä?“, rief sie aus. „Was ist, wenn der Drache noch mehr Opfer haben will? Und dann noch mehr? Und noch mehr?“
Marita war die Tochter des Barons und hatte ein freches Mundwerk. Die Entscheidung ihres Vaters zu kritisieren, ziemte sich nicht für ein Mädchen in der damaligen Zeit, und alle Menschen in der Stadt schauten betreten zu Boden.
„Es schickt sich nicht, für eine junge Dame, in dieser Weise zu sprechen“, rief Stadtschreiber von Finkenbein mit heiserer Stimme. Und alle Menschen blickten neugierig auf das Mädchen.
Heutzutage ist es für junge Mädchen und Buben nicht unziemlich, die Entscheidungen des Vaters oder der Mutter zu hinterfragen. Im Gegenteil: Jeder Mensch, ob groß oder klein, hat seine Ansichten, aber die können für den einen richtig sein und für den anderen falsch. Wichtig ist, dass beide darüber nachdenken können und dann klug handeln.
Emma Pudelwohl zum Beispiel liebte Blumen und stellte immer wieder die Blumentöpfe auf den Sims, auch wenn sie den Leuten vor die Füße krachten. Diese Handlung war entweder klug oder nicht. Gärtner Apfelkern liebte auch Blumen und sein Bäumchen, aber er wollte nicht, dass das Vögelchen in seinem Baum ein Nestchen baute. Er war auch nicht bereit, über seine Meinung weiter nachzudenken. Baron von Tiefenstein wollte gerne sein Volk beschützen, aber er ordnete ein Opfer an. Das hört sich klug an oder dumm. Er hatte keine Ahnung, was danach passieren würde. Auch er konnte im Moment noch nicht weiter darüber nachdenken. Zuerst einmal behielt er Recht.
Jeder Mensch hat seine Wahrheiten und fühlt sich im Recht. Ist es nicht so? Und ein anderer denkt etwas anderes und lacht den Ersten aus. Alle beide liegen entweder falsch oder richtig, oder sie handeln entweder klug oder dumm. Wer kann das sagen? Wer hat nun wirklich Recht?
Wir werden das nicht mehr herausfinden, wer in dieser Geschichte nun wirklich recht behielt, wessen Wahrheit die richtige Wahrheit war, und wer klug oder dumm gehandelt hat, denn es passierte Folgendes:
Maximilian, der Stadtschreiber fürchtete jetzt eine unangenehme Diskussion aufkommen. Er versuchte eine schlaue Antwort zu finden, aber ihm fiel keine ein. In diesem Moment verfinsterte sich der Himmel über den Köpfen der Menschen, und der große, schreckliche Drache aus der Tiefenschlucht landete furchterregend auf dem Marktplatz. Er fauchte eine dunkle Rauchfahne aus seinem Maul und hatte dabei ziemlichen Mundgeruch.
Der Drache war im Vorüberflug vom leuchtend roten Hut des Stadtschreibers mit den glitzernden Glasperlen angelockt worden und wollte sich diesen Hut näher betrachten. Er näherte sich mit seinem Maul dem Stadtschreiber, der, wie zur Säule erstarrt, stehen blieb und sich nicht zu rühren wagte, während er sich gleichzeitig überlegte, was nun schlimmer war, der Drache oder die Diskussion mit Marita.
Im gleichen Moment flog das kleine Vögelchen Piepsi erschreckt von seinem Nestchen auf.
Beso, Maritas Hund, sah Piepsi auffliegen und jagte dem Vogel hinterher. Dabei verhedderte er sich mit seiner schwarzen Pfote in die lange Schlaufe des Leiterwagens von Gärtner Apfelkern und zog den Wagen hinter sich her.
Der Drache blickte sich um, und Frau Emma Pudelwohl schob sich weiter vor, um vom Fenster aus alles besser sehen zu können. Sie hatte zwar sowieso den besten Platz, aber vor lauter Neugierde wollte sie nichts verpassen, und schon wieder kippte der neue, blaue Blumentopf über den Rand des Fenstersimses.
„Meine drei Röschen“, seufzte sie leise.
Beso, Maritas Hund, veranstaltete mit dem quietschenden Leiterwagen einen großen Lärm. Er geriet mit der Leine zwischen die Vorderbeine des Drachens. Dieser stolperte, fiel vornüber und landete mit seinem ganzen Körper und mit seinem vollen Gewicht direkt auf dem Leiterwagen des Gärtners Apfelkern, aus dem die Forke mit den vier spitzen Zacken ragte.
Und in diesem Moment, als der Drache mit dem Kopf auf das Pflaster neben der Bäckerei landete, traf ihn der blaue Blumentopf mit den drei Rosen von Frau Emma Pudelwohl genau auf die Stirn.
Das Siegel des Barons Bruno von Tiefenstein baumelte still an der großen Papierrolle des Stadtschreibers Maximilian von Finkenbein, ganz leicht, als käme gerade ein frischer Wind auf.
Und dann, kaum dass man es hörte, ganz leise, da machte Piepsi einen kleinen „Pieps“.
Man erzählt sich, dass der Drache nach ungefähr drei Stunden wieder erwachte und dabei stöhnte. Er wusste nicht, wo er war und auch nicht, wer er war und warum. Seine Milz hatte vier neue Löcher und konnte endlich ein wenig durchlüften. Und so verließ der Drache das Städtchen Tiefenstein und wurde nie wieder gesehen.